Blog: Schmuck aus Haaren und Zähnen und die Rituale des Trauerns
Geposted von Anja Dumschat am
Es ist ein regnerischer Samstagmorgen im Dezember, ich trinke Kaffee und scrolle durch Instagram. Bei einem Insta Post bleibe ich hängen, in einer Fernsehsendung über Ankauf von Antiquitäten wird eine Goldbrosche angeboten. Es ist aber nicht irgendeine Brosche, sondern etwas, das viele Menschen offensichtlich noch nie gesehen haben, besetzt mit menschlichen Milchzähnen anstatt Diamanten. Die Kommentare unter dem Beitrag enttäuschen nicht…laut wird allgemeiner Ekel und Unverständnis zum Ausdruck gebracht.
Um diesen Brauch zu verstehen, muss man ein paar hundert Jahre zurückgehen und sich das Leben im Georgian oder Victorian England vorstellen: Wir befinden uns mitten in der industriellen Revolution, die - unglaublich aber wahr - in England gut hundert Jahre vor der Deutschen war, ca. 1760 bis 1840.
Am Anfang standen die Webereien, laute, staubige und gefährliche Orte, an denen viele Unfälle passieren und auch ab und zu mal Körperteile abgetrennt wurden. Die Lebenserwartung betrug im Jahre 1850 nur 40 - 42 Jahre und viele Kinder starben schon, bevor sie überhaupt dazu kamen, Milchzähne zu verlieren. Schutz der Arbeiter, wie wir ihn heute kennen, gab es nicht. Ein Schmuckstück mit Milchzähnen drückte also aus, dass man zumindest ein paar Kinder hatte, die ‚es geschafft‘ hatten (Statussymbole haben sich ganz schön geändert, oder?). Auch Queen Victoria hat Schmuck aus den Milchzähnen ihrer Kinder anfertigen lassen lernen wir.
Apropos geschafft: Für die wenigen, die überlebten, gab es viele, die nicht überlebten. Der Umgang mit dem Tod, so wie wir ihn jetzt pflegen, war früher deshalb auch ganz anders. Ebenfalls aus England stammt ‚Mourning Jewellery‘, also Trauer Schmuck.
Frühe Exemplare sind aus der Georgian Period, benannt nach King Georg, 1714 bis 1837. Es waren dunkle, stimmungsvolle Stücke, die oft aus Jet (fossiles Holz, matt schwarz in der Erscheinung), Onyx, Emaille, Gold und….. menschlichen Haaren! gefertigt wurden.
So richtig viral ging dieser Trend aber erst mit Königin Victoria. Mit ihrem über alles geliebten Albert hatte sie nicht nur etliche Kinder, sie waren auch begeisterte Kunst Mäzene, die dem Volk Kunst und Kultur nahebringen wollten. Die beiden waren sozusagen die Mega Influencer ihrer Zeit; was Königin Victoria machte, wurde direkt von ihren Hofdamen kopiert und kurze Zeit später vom halben Land nachgemacht. Doch das Glück im Hause Sachsen-Coburg und Gotha (das wurde übrigens später, als der erste Weltkrieg ausbrach, zügig in ‚‘Windsor‘ umbenannt, warum nur?) war leider nur von kurzer Dauer. 1861, mit gerade mal 42 Jahren, verstarb Albert an Typhus.
Queen Victoria, die vor nicht langer Zeit auch schon ihre Mutter verloren hatte, war am Boden zerstört. Ihr Schmerz und ihre oft öffentlich zur Schau gestellte Trauer nahmen bizarre Ausmaße an: Nicht nur mussten ihre Diener nach wie vor jeden Tag heißes Wasser in die Gemächer des Verstorbenen bringen und sein Bett neu beziehen, sie wurde auch zu einer Art Trendsetterin, was Trauermode anbelangt. Sie war die Erfinderin des ritualisierten Trauerns und der Brauch, in Trauer schwarze Kleider zu tragen, wird ihr zugeschrieben. Victorian England war auf einmal verrückt nach Mourning Jewellery und hielt sich strikt an Trauerprotokolle.